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Geistbuch

Klack, klick, peng, kling! Jeder Buchstabe ein Schuss. Am großen Schaufenster draußen laufen Leute vorbei, schauen, zeigen mit dem Finger auf mich und meine Schreibmaschine. Die gabriele35. Das kleine Räumchen wird nur von einer dicken Kerze erleuchtet und mir scheint, ich säße auf einem viktorianischen Dachboden, durch den es zieht und pustet. Dabei bin ich doch im Epizentrum unserer täglichen Aufmerksamkeit, mitten in einer kleinen Galerie in der Gaustraße, ich befinde mich in Facebook. Beziehungsweise im Geistbuch, aber das funktioniert ja fast genauso. Nur ohne Netz, ohne Strom und ohne den Hass.

Das Geistbuch ist ein partizipatives Projekt von Hermann Recknagel, das seit Mitte November in der Mainzer Kulturrepublik (Gaustraße 67) zu finden ist. Geht man an dem Schaufenster vorbei, wird der Blick sofort angesogen. Direkt hinter dem Glas stehen ein alter Schreibtisch, eine Schreibmaschine und eben eine dicke Kerze. Das kleine Räumchen ist auf spartanische Art gemütlich. Die Decken sind bespannt mit Schnüren, an den Wänden hängen Kärtchen und Fotos und aus dem Hintergrund erklingt entspannte Musik. Jeder ist eingeladen, hereinzukommen und selbst etwas zu posten. Im Geistbuch gibt es alles, was es auch online gibt: Eine Wand dient als Chronik, hier werden die Posts einfach untereinandergehängt und man liest von einfachen Meinungsbekundungen, von Freundschaftsanfragen und Wutausbrüchen, dasselbe wie auf den sozialen Netzwerken auch. Dann gibt es eine Messengerwand und eine Ecke für Fotos natürlich. Diese können gleich im Geistbuch mit einer analogen Kamera aufgenommen werden. Auf altem Fotopapier werden sie von Hermann Recknagel in originaler Flüssigkeit entwickelt und anschließend an die Wand gepostet. Geschrieben wird auf 60 Jahre altem Papier, die gabriele35 hat auch schon einige Winter erlebt und die Schnüre sind aus irgendeinem Restbestand. Diese Detailverliebtheit macht einen Großteil des Charmes des Geistbuches aus. „Auch der Raum hat seine Macken,“, sagt Herr Recknagel, „Man sieht den Dingen hier ihre Altersspuren an und das steht für eine ganz andere Form der Kommunikation.“

geistbuch

Es geht um interessante Posts, Geschichten und kurze Gedankenschnipsel der Menschen, die ins Geistbuch kommen. Zwei Jahre lang hat der Künstler das Konzept „Facebook“ analysiert und holt es hiermit in die analoge Welt zurück. „Die meisten Leute, die kommen, lassen sich vollkommen darauf ein“, sagt Herr Recknagel. „Sie tippen Posts, machen Bilder und beziehen sich untereinander auf andere Posts“. Dafür sind dann die Schnüre da, sie werden von einem Kärtchen zum anderen gespannt und versinnbildlichen die Verlinkungen. Mittlerweile flechten sich schon ganze Netze unter der Decke entlang und verknüpfen auch die Menschen dahinter miteinander. Viele kommen mehrere Male und schauen, was es Neues gibt. Aber wenn jemand einfach nur mal seinen Frust posten möchte, kann er das natürlich auch tun. „Diese Posts kommen dann in eine Quarantänekiste ab 18. Aber so wirklich was Fieses hat jetzt noch keiner gepostet“, sagt der Künstler. Im Gegenteil, eine Dame sogar hat auf ihre Geburtstagsnachricht viele Glückwünsche zurückgeschickt bekommen.

Das Geistbuch ist ein überaus sympathisches Projekt, das die Kunst mit dem realen Leben verbindet. Man wird erinnert, dass Kommunikation auch außerhalb von Chats und Threads stattfinden kann, und ist eingeladen, selbst aktiv daran teilzunehmen. Ich freue mich, über dieses Projekt gestolpert zu sein und spreche die wärmsten Empfehlungen aus, einmal im Geistbuch vorbeizuschauen und etwas zu tippen. Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, selbst einen Post zu verfassen (so eine Schreibmaschine ist doch viel hübscher als jede Tastatur), den ihr hier nachlesen könnt.

Das Geistbuch von Hermann Recknagel ist täglich geöffnet von Montag bis Freitag, 18.15 bis 19.45 Uhr, samstags von 10 bis 13 Uhr und sonntags von 15 bis 17 Uhr. Im Januar wird es dann eine Vernissage geben, bei der man sich die „fertige“ Rauminstallation betrachten kann. Weitere Infos zum Projekt gibt es natürlich auf Facebook und mehr über Hermann Recknagel findet ihr hier.

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