Letterwald Mainz

Literatur • Moderation • Veranstaltungen
Literaturtipps

Rezension | Juliane Pickel: „Rattensommer“

Der Titel spricht mich gleich an. Mit der ersten Seite bin ich tief drin in der Geschichte und in wenigen Tagen liegt das Buch ausgelesen auf meinem Schreibtisch. Nach „Krummer Hund“ schafft Juliane Pickel es erneut, dieses ganz spezielle Gefühl einzufangen, sie stellt jugendliche Freiheit und lauernde Bedrohung gegenüber, und zeichnet so einen wunderbar ausgewogenen, runden und spannungsreichen Roman. Aber von Anfang an:

Lou und Sonny sind beste Freundinnen. Zwischen sie passt kein Blatt, manchmal beschreiben sie sich wie zwei Hälften eines Ganzen. Die Sommerferien fangen gerade an, also gibt es reichlich Zeit zu vertrödeln. Dazu fahren sie in ein verlassenes Schwimmbad, richten sich häuslich ein und genießen die Einsamkeit zu zweit. Ihre emotionalen Päckchen lassen sie dabei weit hinter sich. Lous Eltern trauern auch nach sechzehn Jahren um ihre tot zur Welt gekommene Tochter, legen ihr nicht gelebtes Leben wie eine Blaupause auf Lou und flüchten sich in Essstörungen und Gefühlsausbrüche. Sonny hingegen ist voller Wut, ihre Mutter kam vor einigen Jahren bei einem eskalierten Streit im Fastfood-Restaurant ums Leben. Ob es Mord war, wie sie sagt, oder ein Unfall muss nicht geklärt werden. Es ändert nichts daran, dass ihre Mutter tot ist und der Verantwortliche bis gestern noch im Gefängnis gesessen hat. Heute aber ist er frei und kehrt in den kleinen Ort zurück.

Die Rückkehr Hagen Benders bringt das soziale Gleichgewicht ins Wanken. Sonnys Gedanken sind besessen von Racheplänen, die sie ohne Rücksicht verfolgt. Dabei geht sie über Befindlichkeiten hinweg, entführt sogar Benders Katze und ignoriert den eigenen Schmerz. Auch erste Annäherungen zwischen Lou und Sonny fallen dem zum Opfer, was Lou in einem regelrechten Gefühlswirbelsturm zurücklässt.

Über allem schwebt die Hitze des Sommers. Die Luft knistert, es stinkt und man bekommt den Eindruck, als vermodere es an allen Ecken und Enden. Genau das ist es aber, was ich an Juliane Pickels Schreibe so schätze. Nichts ist hier geschönt, nichts abgeschwächt oder weichgezeichnet. Sie mutet ihren Leser:innen einiges zu und schreckt auch vor eiternden Wundern (buchstäblich und metaphorisch) nicht zurück. Wir werden in eine Welt gezogen, die so von Trauer durchwoben ist, dass sogar der Tod einer Ratte einen zentralen Platz im Bild einnehmen kann. Dazwischen geht es um die Freundschaft und Verliebtheit zweier ungleicher Mädchen, die ohne Gefühlsduselei beschrieben wird und den Raum bekommt, sich erst zaghaft aufzubauen und dann krachend ineinander zusammenzufallen. Jedes Kapitel legt eine weitere Schicht frei, bis wir uns das Skelett ganz genau anschauen können, die einzelnen Teile, die Verbindungen und Mechanismen der Beziehungen in diesem kleinen Ort.

Ich bin ein Fan von Juliane Pickel. Seitdem ich sie im Rahmen des Peter-Härtling-Preises 2021 kennenlernen durfte, verfolge ich ihren Gang mit Freude und Staunen. Umso mehr bin ich begeistert, dass ihr zweites Buch „Rattensommer“ so eine Wucht ist und mit all den ausgezeichneten Figuren, bis hin zur schrulligen Nachbarin, und Körperlichkeiten nicht nur genau meinen Geschmack trifft, sondern einfach als fantastischer Roman daherkommt um Freundschaft, Rache und Verlust.
Während „Krummer Hund“ uns winterlich frösteln ließ, kommen wir bei „Rattensommer“ also so richtig ins Schwitzen. Ich persönlich freue mich jedenfalls schon auf die Jahreszeiten-Tetralogie. Vielleicht geht es ja beim nächsten Mal in den Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fallen und so richtig düstere Stimmung verbreiten?

Herzlichen Dank an den Verlag Beltz&Gelberg für die Zusendung des Rezensionsexemplars.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert