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Der Ausflug der toten Mädchen

Die Novelle Der Ausflug der toten Mädchen war das erste Buch, das wir im Deutsch-Leistungskurs der Oberstufe lesen sollten. Anna Seghers, die mit den Kreuzen. Retro schaut es aus, ganz in Sepia und der Dom ist auch mit drauf. Ich dachte mir nicht viel dabei, erwartete auch nicht viel und las die 30 Seiten an einem Nachmittag durch. Doch tatsächlich sollte dieses dünne Büchlein bis heute eine meiner Lieblingsschullektüren sein.

Der Roman spielt auf verschiedenen Ebenen, die nicht immer eindeutig zu durchdringen sind. Er beginnt in Mexiko kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, springt zurück ins Jahr 1913 und schneidet dann immer wieder in kurzen, erzählerischen Episoden an verschiedene Punkte im Leben der Figuren. Die Binnenerzählung ist hier das Herzstück der Geschichte und nimmt den Leser mit auf den Schulausflug einer Mädchenklasse aus Mainz. Sie spazieren am Rhein entlang, albern herum, lästern. Sie sind ganz normale Mädchen zu Beginn ihrer Pubertät. Sie machen einen Bootsausflug auf dem Rhein, unerhalten sich, wer mit wem aus der Unterprima zusammen ist und wer denn nun die hübscheste der Klasse sei. Als sie dann auch noch die Knaben an der Uferpromenade treffen, scheint es kein Halten mehr für die Heranwachsenden zu geben. Etwas abseits davon befindet sich die Hauptfigur, Netty, die als Beobachterin fungiert. Sie wird von ihrer Lehrerin angesprochen, die Ereignisse des Ausflugs festzuhalten, weil sie doch so gerne Aufsätze schreibe. Aus der Rahmenhandlung wird ersichtlich, dass Netty in der Hitze Mexikos an ebendiesen Ausflug zurückdenken muss und die Geschichte nun niederschreibt, wie sie es der Lehrerin damals versprochen hat. Doch ihre Aufzeichnung geht noch weiter, hört nicht mit dem Ende des Tages auf, sondern erzählt in kurzen Erinnerungsfetzen von den Erlebnissen ihrer Schulfreundinnen im Dritten Reich. Die eine nimmt sich, der „Rassenschande“ überführt, mit Schlafpulver das Leben, eine andere war in einem „vollgepferchten plombierten Waggon von den Nazis nach Polen deportiert worden“, wo sie später starb. Eine dritte Freundin wird Lehrerin und heiratet Lehrer Neeb, der aus Angst, dass sie beide ihre Stelle verlieren, dem Hakenkreuz verfällt, worauf sie den Gashahn aufdreht. Netty ist die Einzige aus der Klasse, die den Krieg überlebt.

Die Handlung erinnert etwas an Ian McEwans großartigen Roman „Abbitte“. Auch hier schreibt die Protagonistin das Leben ihrer Bekannten und Freunde weiter, rekonstruiert deren Erlebnisse während des Krieges. Doch Der Ausflug der toten Mädchen ist tiefer, erschütternder. Der Leser folgt den Mädchen am Rhein entlang, durch die Flachsmarktstraße, Orte, die es heute noch genau so gibt. Einen Ausflug wie diesen haben wir alle gemacht, ich war selbst auf einer Mädchenschule, da kommen mir die Neckereien untereinander noch einmal bekannter vor. Anna Seghers schafft es auf 30 Seiten, ein Mainz auferstehen zu lassen, das gleichzeitig fremd und vertraut ist, voll Wehmut und Schrecken ob der Schicksale des Krieges. Trotz meiner anfänglichen, vierzehnjährigen Zweifel, finde ich diese Novelle ideal als Schullektüre, gerade in Mainz, kann sie aber auch durchaus heute noch aus dem Regal ziehen und vielleicht nicht gerade genießen, aber doch ehrfurchtsvoll verschlingen.

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