Ich war noch niemals in New York. Und auf Hawaii war ich auch noch nicht. Und schon gar nicht bin ich mit zerriss’nen Jeans durch San Francisco gelaufen. Überhaupt bin ich in meinem Leben noch nicht sonderlich viel herumgekommen, bin kein #travelfluencer, und kann auch gar nicht so genau sagen, warum eigentlich nicht (außer Kosten, Flugangst, Zeitmangel und Kosten vielleicht…). Deshalb lese ich so gerne. In Büchern kann ich fremde Länder bereisen, höchste Berge erklimmen und exotische Aromen kosten, wann immer es mir beliebt. Und dabei kann ich noch gemütlich auf der Couch sitzen und die Katze kraulen. Oder wie die amerikanische Schriftstellerin Jhumpa Lahiri es zusammenfasst: „That’s the thing about books. They let you travel without moving your feet.“
So war ich sehr froh, als eines verregneten Herbsttages ein kleines Päckchen in die Wohnung geflattert kam, um mich mit auf ein neues Abenteuer zu nehmen. Als entfernte Freundin der Autorin hatte ich selbst schon einigen Anekdoten über den Schreib- und Veröffentlichungsprozess lauschen dürfen, sodass ich voller Vorfreude Miriam Spies‘ Reiseroman „Im Land der kaputten Uhren“ auspackte und das nun fertige Buch schließlich in Händen halten konnte. Äußerlich hat es alle Vorzüge, die ein Buch nur haben kann: Die Signalfarbe orange lässt es im überfüllten Bücherregal nicht untergehen, die goldenen Applikationen auf dem Umschlag locken mit Orientalik und Glitzer und das Huhn auf dem Cover – einfach, weil’s geht. So weit war ich schon mal begeistert. Inhaltlich wusste ich vor der Lektüre erst einmal wenig damit anzufangen. Um Marokko würde es gehen, einen Roadtrip durch dieses Land, das ich außer in William S. Burroughs Roman „Naked Lunch“ noch nie bereist hatte. Ich schlug es also auf und fuhr los.
Ich rauschte durch die Seiten und gemeinsam mit Miriam Spies durchs ganze Land: von Nador nach Tanger nach Boukhalef, Zwischenstops in Casablanca und Marrakesch. Einbahnstraßen, Sackgassen und Umwege auf Tagesbasis. Auf den ersten Seiten des Buches wird zwar eine durchgeplante Reiseroute skizziert, aber sehr schnell merkt man, das dort genauso gut ein Einkaufszettel hätte abgedruckt sein können. „Travel the Moroccan way“, heißt es auf Seite 1 und wie schön es ist, dass Miriam Spies sich selbst und dem Leser die Freiheit gönnt, Marokko auf genau diese Weise mit ihr zu erkunden. Eben ohne Zeitdruck, ohne Stress, unaufgeregt, die Touristenmagneten umschiffend und dabei stets sympathisch und reflektiert. Wir folgen ihr durch das Dickicht marokkanischer Innenstädte, durch Kommunikationsschwierigkeiten und viele, viele kalte Nächte. Ein klares Ziel der Reise wird nie definiert – zum Glück! – und mit jedem Umblättern entfalten sich neue Seiten des nordafrikanischen Landes. Man lernt, einen Bus anzuhalten, warum man seinen Koffer am besten mit Handschellen an seinem Körper befestigen sollte und, dass Doc Martens wohl das beste, ja einzig nötige Schuhwerk, für welche Reise auch immer sind. Der marokkanischen Gastlichkeit zum Dank kosten wir von Nudeln mit Thunfisch oder ausgedehnten Frühstücksplatten, dürfen bei Katzenladys und Großfamilien unterkommen und können am Ende ebenso wie die Autorin davon überzeugt sein, dass „Gastfreundschaft in Marokko erfunden wurde“ (202).
Dem Lesegenuss maßgeblich zugrunde liegen dabei nicht zuletzt Miriam Spies‘ wunderbare Erzählkraft, ihre klare, unterhaltsame Sprache und das spürbare Herzblut, mit dem sie sich ihrer eigenen Reise hingibt. Die Autorin schafft es immer wieder, die Lippen zum Schmunzeln zu bewegen, Landesgeschichte und Reiseberichte mühelos zu verweben und Marokko auch sprachlich vollkommen unvoreingenommen zu begegnen. Ihren Schreibprozess fasst sie dabei in wunderbaren Worten zusammen: „Schleppnetzen gleich zog ich meine Erinnerung über den unebenen Grund der Erlebnisse der letzten Tage, um Eindrücke herauszufischen, die ich nicht dem Meer des Vergessens überlassen wollte. […] Aber je mehr Wörter ich an Land zog, um sie, von Schlick und Seetang befreit, an den imaginären Linien meiner Kladde zum Trocknen aufzuhängen, umso klarer wurde mir, wie viel sich dort unten abgesetzt hatte. Tage, die ich mit Nichtstun zugebracht hatte und die doch voller und bunter und tiefer waren als so mancher geschäftige Tag zu Hause.“ (192). Deutlich spürbar ist es die Reise, die Sie interessiert, das unterwegs Sein. So beschreibt sie unter anderem das Verlorengehen als Teil der Reise (183) oder bestimmt einfach qua Münzwurf das nächste Reiseziel (197).
Nun bliebe mir an dieser Stelle statt eines Fazits nichts anderes übrig, als meinen Rucksack gepackt zu haben, mich mit Taschentüchern und Kladde bewaffnet in den Flieger gesetzt und dem deutschen Winter ab nach Marokko entflohen zu sein. Hab ich aber nicht. Noch nicht einmal Reisepläne habe ich nach der Lektüre geschmiedet, weder nach Marokko noch sonst wohin. Im Gegenteil hat mich getreu Jhumpa Lahiris Motto aber die Lust gepackt, die Welt weiter in Büchern erkunden zu wollen. Über Amerika, Großbritannien oder Zentraleuropa hinauszulesen und andere Kulturen kennen- und liebenzulernen, im besten Falle mit einer so herausragenden literarischen Reiseführerin wie Miriam Spies. Stattdessen habe ich mir beim Lesen Gedanken über Ziele gemacht, über Wege und Umwege und über die Menschen, die einem tagtäglich begegnen. Und vielleicht ist es ja genau das Gefühl, dass Miriam Spies mit „Im Land der kaputten Uhren“ vermitteln wollte: Es gibt kein Ankommen beim Reisen, es geht ums Reisen an sich, in einem fremden Land oder vor der eigenen Haustür, oder wie Burroughs guter Freund Jack schon schrieb: „The road must eventually lead to the whole world.“
Miriam Spies
„Im Land der kaputten Uhren: Mein marokkanischer Roadtrip“
Conbook Verlag
ISBN: 978-3-95889-258-3
14,95 Euro
Vielen Dank an Conbook für das Rezensionsexemplar.